ich verabschiede mich. vor dem eingang der innerstädtischen synagoge eine menschentraube. am 21.09.2023. standen alle an um die szenische lesung SIDY THAL a schtikl zu sehen. eine veranstaltung im rahmen des europäischen theaterfestivals eurothalia.
eine veranstaltung, bei der sieben institutionen miteinander kooperierten:
das deutsche kulturforum östliches europa, das deutsche staatstheater temeswar, das deutsche konsulat temeswar, das demokratische forum der deutschen im banat, die jüdische gemeinde temeswar, die moses mendelssohn stiftung berlin und das projektzentrum / centrul de proiecte der stadt temeswar.
meine verabschiedung als stadtschreiber in temeswar.
Mein Temeswar,
gastbeitrag von david mihuța, teilnehmender der schreibwerkstatt.
du hältst in deinen steinernen Armen die Schachtel mit all meinen Erinnerungen.
Alles, was für mich einen Wert hat, schwebt wie ein Gespenst zwischen deinen Mauern. Ich höre noch das Lachen, das Weinen, aber besonders die Stille.
Die Passanten verlieren ihre Gesichter, ihre Umrisse verschmelzen und umzäunen meinen Weg nach Hause. Eine Hupe durchsticht von Zeit zu Zeit die fließende Barriere mit Farben, mit hellen, mit bunten Farben, wie es sie nicht mehr gibt, wie sie nur noch sind in jenen Träumen, die sich ab und zu wiederholen, in denen die Sonne immer scheint.
Ein Spiegel öffnet sich. Ich sehe ein Kind darin spielen. Es hat ein Pflaster auf seinem Arm. Die Erinnerung löst sich auf. Der Weg nach Hause geht weiter.
Deine Gebäude, Straßen und Parks, die ich tagtäglich gesehen habe, scheinen mir fremder als je zuvor. Sie schauen mich ausdruckslos über die gesichtslose Wand an. Die Strecke wird immer länger und zieht an meinem Zuhause vorbei. Sie führt aus der Stadt hinaus… ins freie Feld.
Ich blicke zurück, der alte Weg ist nun ein Faden, der mit jedem Schritt dünner wird, immer dünner, doch nie zerreißt.
Mein Temeswar, du bist nun nicht mehr mein, ich aber werde immer dein sein.
Domplatz. Handlung verschwommen.
gastbeitrag von sandra silvășan, teilnehmende der schreibwerkstatt.
Mein Schatten dehnt sich auf dem Boden aus. Ich kann das graue Bild meiner im Wind wehenden Haare genau betrachten.
Eine männliche Stimme entführt meine Aufmerksamkeit. Lenkt meinen Blick nach rechts auf den weiten Platz. Ein erwachsener Mann geht. Er spricht am Telefon, spricht laut. Er tröstet jemanden, doch tröstet er nicht wirklich, es fühlt sich an, als ob er etwas Wichtiges verschweigen würde. Dann ist er wieder weg.
Ich bleibe alleine und doch von Lauten umgeben. Es wird gegangen, die Schritte finden die Erde mit POCK-Geräuschen. POCK-POCK-POCK.
Eine Taube flattert über meinem Kopf hinweg. Eine andere gurrt.
Zwei Glockenschläge füllen den Platz.
Ich kann zwei größere Schatten bemerken. Beide nähern sich mir. Jemand fasst mich an. Ich sehe es, fühle es jedoch nicht. Die Sonne schwebt vor meinen Blicken, die Farben mischen sich in einem unaufhörlichen Tanz.
Die Welt dreht sich auf beliebiger Weise. Ich weiß alles, ich fühle nichts.
Die Art, in der die Menschen meinen Körper herumzerren, erstaunt mich nicht.
Die verängstigten Blicke der Fußgänger bringen mir keine Empathie.
Der „Unirii“- Platz verschwimmt in einem fiktiven Fluss. Nicht zu greifen.
Langsam führe ich meine Hände zum Gesicht. Leute schreien mich an, meine Ohren lassen alles verstummen.
Ein einziger Blutfleck erscheint auf meiner linken Handoberfläche.
Mit wachem Gesichtsausdruck spazieren meine Augen durch die Umgebung.
Wo mein Schatten sich vor einigen Sekunden noch auf dem Boden ausdehnte liegt jetzt ein Körper.
Schon höre ich die Sirene des Polizeiautos.
piața unirii.
schreibwerkstatt. heute nicht im klassenzimmer des lenau-lyzeums. sondern draußen. habe meine lieblingsschreibübung mitgebracht:
setzt euch an einen platz und beobachtet. schreibt. alles, was ihr seht. was ihr hört. welche wortfetzen? welche sprachen? lasst alles auf euch einwirken. euch davon inspirieren.
domplatz. auch hauptplatz einmal. ungarisch losonczy tér (platz), serbisch трг уједињења. heute rumänisch piața unirii. platz der vereinigung.
wie es in jeder rumänischen stadt beinah einen platz der vereinigung gibt. der an den 1. dezember 1918 erinnert, als nach dem ersten weltkrieg das damalige königreich rumänien (bestehend aus walachei und moldau) mit den provinzen bessarabien, bukowina, banat, kreischland, maramuresch und siebenbürgen zum großkönigreich rumänien vereinigt wurde.
„piața unirii.“ weiterlesenLiebes Temeswar,
gastbeitrag von marie-theres auer, dramatikerin bei FORUM Text.
ich muss gestehen, wir kennen uns noch nicht lange. Ja, ich habe erst vor wenigen Monaten erfahren, dass es dich gibt. Was für ein Glück, dass ich dich jetzt gleich für eine Woche kennenlernen durfte.
Man nennt dich „Klein Wien an der Bega“, aber ich glaube, den Namen hast du gar nicht nötig. Du hast eine eigene, spannende Geschichte, die sich auf den Plätzen niederschreibt, in den Hausmauern sichtbar und durch die Menschen lebendig gehalten wird, die in dir leben.
Weißt du eigentlich, wie reich du bist? In den Räumlichkeiten, in denen wir gearbeitet haben, im Deutschen Staatstheater Theater Temeswar, waren auch im selben Haus das ungarische und das rumänische Staatstheater, und zusätzlich die Oper und das Ballett. Alles in einem Gebäude. Bei der Eröffnung deines Eurothalia-Festivals hast du gleich dreisprachig mit mir gesprochen. Ganz selbstverständlich. Und ich merke: Selbstverständliche Vielseitigkeit ist der beste Schutz gegen aufgezwungene Einfältigkeit.
Auf jeden Fall bis bald und pass auf dich auf!
auf den spuren der aktionsgruppe banat
als stadtschreiber habe ich es mir zur aufgabe gemacht künstler in die kulturhauptstadt einzuladen. vom 15. bis 20. september war mein jahrgang von FORUM Text zu gast in der stadt.
sie waren nicht die ersten künstler, die mich in der stadt besuchten.
wir kennen uns schon lange. sind mitunter auch der jahrgang, der coronoabedingt wohl die meiste zeit miteinander verbracht haben wird.
unter der leitung von edith draxl und peter waterhouse finden unsere treffen sonst in regelmäßigen abständen am schloss retzhof in der südsteiermark statt.
und doch war ich aufgeregt alle in temeswar zu begrüßen. ihnen die stadt zu zeigen. sie herumzuführen. an orte, die für sie und ihre texte inspirierend sein könnten. gemeinsam die ersten textentwürfe meines stückes SIDY THAL zu lesen. genau zu lesen. zu überprüfen. darüber zu sprechen. und sie an einer probe für die szenische lesung des schtikls teilhaben zu lassen. als erstes publikum.
vergessen wir nicht.
czernowitz. cernăuți. צֶ׳רנוֹבִיץ. чернівці. tscherniwzi.
eine theaterprobe. das ensemble probiert.
eine schauspielerin
ich renne, hüpfe und klopf mir auf die schenkel!
ist keine kleinigkeit. ich fahre!
schiff! zug! fahrkarte!
vapor! tren! bilet!
halbpreisticket! wohin fahren wir?
to america!
ich fahre.
ich bin in meinem ganzen leben noch nirgends hingefahren.
ich weiß nicht, wie sich „weggehen“ anfühlt. was bedeutet das?
einmal bin ich auf der ziege meines nachbarn geritten, aber das ist mir teuer zu stehen gekommen –
ich bin gefallen, habe mir die nase blutig geschlagen und ein paar ohrfeigen kassiert.
dieser ausflug zählt also nicht.
den ganzen tag lang bin ich wie im nebel unterwegs.
ich hab’ meinen appetit verloren.
nachts träum’ ich, dass ich fahre.
nein, nicht fahre, sondern fliege.
ich habe flügel wie eine taube, und ich fliege.
SIDY THAL a schtikl
heute eröffnet das europäische theaterfestival eurothalia in temeswar.
und auch von mir gibt es in diesem rahmen am donnerstag eine szenische lesung in der innerstädtischen synagoge.
am 26. november 1938 explodierten während eines auftritts der jüdisch-bukowinischen sängerin sidy thal im temeswarer gemeindetheater zwei handgranaten im saal. ein antisemitischer anschlag, verübt von der rechtsextremen nationalistischen bewegung der legionäre, bei dem vier menschen starben und siebzig verletzt wurden.
dieses attentat ist ausgangspunkt für das auftragswerk SIDY THAL, das anfang november am deutschen staatstheater temeswar in kooperation mit dem jüdischen staatstheater bukarest in der regie von clemens bechtel uraufgeführt wird.
vergisst eine stadt?
Thomas Perle
vergisst ein ort
jemals
was
einmal
geschehen
dort?
SIDY THAL a schtikl ist ein fragment daraus, mit dem ich offiziell als stadtschreiber des deutschen kulturforums östliches europa in der europäischen kulturhauptstadt temeswar verabschiedet werde.
temeswar: lieben sie freiheit?
die aufgaben des stadtschreibers sind vielfältig.
vor kurzem waren moderatorin bianca hauda und das team von ARTE Twist zu besuch. ich habe sie ein wenig durch die stadt geführt. dabei haben wir uns viel über europäische identität unterhalten.
wir waren im muzeul consumatorului comunist (museum des kommunistischen verbrauchers), spazierten die bega entlang und blickten von der pepinieră, der vertikalen baumschule auf die stadt und das theater, wo auch bald die proben zu SIDY THAL beginnen.
kultur bei kaffee und kuchen.
über den sommer blieb es still auf dem blog. bleibt aufzuarbeiten die vielen begegnungen. besuche. besichtigungen in der stadt. schreibworkshops. es gab gespräche. performances. aufführungen. filmaufnahmen. einen shitstorm
und
ein stück wurde geschrieben.
gemeinsam mit dem regisseur clemens bechtel entstand in der hitze des sommers das theaterstück SIDY THAL, das am 4. november 2023 am deutschen staatstheater temeswar uraufgeführt wird.
kurze ausschnitte daraus gibt es bei kaffee und kuchen auf einladung von frau konsulin regina lochner an diesem mittwoch:
13.09.2023 | 15.30 – 17.30 uhr | caféhaus VIM | str. general henri berthelot 7